Detlef Suhr
Zweifel
Gab es Karl den Großen wirklich?
Verlag Neue Literatur Jena, Plauen, Quedlinburg 2010
TB-Format, 200 S., 19 meist farbige Abb.

Vielleicht hätte der Titel noch besser lauten sollen: Gab es Karl den Großen wirklich nicht? Es stellt die Phantomzeitthese von Dr. Heribert Illig vor und bekräftigt sie aus der Sicht eines Arztes.
Dieses Buch soll Zweiflern nachhelfen, und tut es mit kräftigen Ausdrücken und gewollt flapsiger Sprache nach Art einer Wochenzeitschrift, die jungen Lesern vermutlich leicht eingehen wird. Dabei hat der Autor den Vorteil, selbst praktizierender Arzt zu sein und so den Menschen von seiner phy­sischen Seite bestens zu kennen. Das Wissen der Ärzte gilt ja heute als die größte und sicherste aller Naturwissenschaften, und das wohl zu Recht! Darum heißt die Überschrift zum 9. Kapitel: „Naturwissenschaftliche Sicherheit: der DNS-Vergleich“. Und schon vorher (S. 76) macht Suhr den Unterschied zwischen Glauben und Wissen in folgendem Satz deutlich: „Das Tuberkelbakterium, das AIDS-Virus und das Penizillin konnte man nur entdecken – erfinden konnte man sie nicht. Das unterscheidet die Naturwissenschaft von rein theoretischen Disziplinen ...“ Okay, möchte man mit dem Autor sagen.
Die Erkenntnisse, die Suhr aus der Verarbeitung von Illigs beiden Büchern gezogen hat, sind entsprechend betonhart: „Unsere Zeitrechnung ist relativ. Sie wurde von Menschen gemacht und von Menschen immer wieder verändert.“ (S. 33). Da ja im Mittelalter nur wenige lesen konnten und die Alleinherrscher alle Macht in Händen hielten, waren Manipulationen der Zeitrechnung eine leicht zu bewerkstelligende Angelegenheit. So jedenfalls sieht es Suhr: „Heute wäre eine derartige Manipulation allein schon dank der Medien undenkbar.“ (S. 35)
Außer auf Illig stützt sich Suhr auch auf Originaltexte wie die Berichte von Einhard, Thegan und Astronomus; die letzten beiden wurden erst 1995 im Rahmen der MGH in Hannover herausgegeben und sind sogar digitalisiert. Die daraus gewonnenen medizinischen Hinweise sind zwar mager, aber doch so widersprüchlich, dass ein moderner Arzt nur zu dem Schluss kommen kann, dass sie unzuverlässig sind. Auch sonst ist ja für Suhr manches aus der Geschichte der Medizin etwas wirr: „Die Lepra (‚Aussatz’) trat in Westeuropa erst im Zusammenhang mit den Kreuzzügen und den damit verbundenen Menschenbewegungen in den Nahen Osten und retour auf.“ In der Antike war sie allerdings doch schon verbreitet, gibt er zu, denn damals half man sich mit Isolation der Kranken. In Sachen Pest sieht es nicht klarer aus: Sie „suchte Europa seit 753 v. Chr. immer wieder in regelmäßigen Abständen ... heim.“ (S. 111) Seit der bekannten Gründung der Stadt Rom also, -753, gibt es die Pest in Europa? Aber gerade in der Phantomzeit, genau: zwischen 580 und 1346, fehlt sie. Das sind neue Erkenntnisse.
Da die Mönche von Aachen das Grab des großen Kaisers unkenntlich machten, „als ein Überfall rabiater skandinavischer Sozialtouristen, der sogenannte ‚Normannensturm’ von 882 n. Chr. über Aachen hereinbrach“, haben wir im Ernstfall keine identifizierbaren Knochen des Kaisers mehr und eine DNA-Analyse würde uns auch nicht weiterbringen, wie Suhr das genüsslich an anderen Beispielen, etwa König Artus von Britannien und Friedrich Schiller aus Weimar, zum Vergleich vorführt.
In einigen Punkten hat Suhr seine Vorlagen etwas flüchtig gelesen, etwa wenn er (S. 31) behauptet, dass die „ab urbe condita“-Jahreszählung sich „erst gegen 400 n. Chr.“ durchsetzte. Vielleicht handelt es sich ja auch um einen Druckfehler, es könnte ein glattes Jahrtausend fehlen, denn 1400 n. Chr. würde eher stimmen. Und was die angeblich falsche Kalenderschaltung durch Papst Gregor XIII. angeht, so hat Suhr wie manche von Illigs Lesern das Problem nicht erfasst, sondern durch grobe Vereinfachung verdreht. Dabei werden aus 348 Jahren „etwa 300 Jahre“. Die präzisen 297 von Illig kommen nirgends vor in diesem Büchlein.
Der Autor begrenzt am Ende (S. 179) seine Absicht, indem er erklärt: „Es ist mitnichten das Anliegen dieses Buches, eine historische Revolution wie die Phantomzeitthese auszuwalzen, sondern explizit eine einzige Person in den Fokus der Betrachtung zu rücken: Karl den Großen.“ Und fragt etwas später (S. 182): „Sollte Karl inklusive seiner Vor- und Nachfahren aus der Geschichte verschwinden – bräche dann unsere Welt zusammen?“ Im Antwortsatz gibt Suhr der Illigschen These den Wert der kopernikanischen Umwälzung: „Sicher würde sich unser Bild von der Welt und ihrer Geschichte verändern, wie etwa zu Beginn der großen geografischen Entdeckungen im 15. Jahrhundert, als für die Menschen aus der Erde als Scheibe eine Welt in Kugelgestalt wurde.“ Das ist zwar ein Ammenmärchen – die Leute, die etwas wussten, wussten allezeit, dass die Erde eine Kugel ist – aber es würdigt Illigs Tat in gebührender Weise, indem Suhr fortfährt: „Dieser Erkenntnisprozess einer objektiven Tatsache bewirkte nicht das Ende der Welt, sondern das ganze Gegenteil – einen großen Fortschritt!“
In diesem Sinne ist Suhrs medizinische Sicht auf Illigs epochemachenden Durchbruch für alle lesenswert, die es gern einfach haben und die vielen tausend Seiten, die in unseren Forschungsgruppen zum Thema veröffentlicht wurden, nicht verkraften.
(Uwe Topper)


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